Gewachsenes und Gebautes

Die große Wandzeichnung Simon Halfmeyers im Kunsthaus Essen erstreckt sich über mehrere Wände, sie dehnt sich wachsend und wuchernd aus und nimmt den ganzen Raum ein. Der Zeichnung des schwarzen Stifts auf der weißen Wand eignet ein graphischer Charakter, der sie fast wie eine Projektion auf der Wandfläche erscheinen lässt. Ihr Lineament erschließt der Wand eine ungeahnte Tiefe, eröffnet einen enormen Bildraum, in dem sich die einzelnen Bildelemente teilweise frei schwebend und schwerelos, teilweise verflochten und sich in mehreren Schichten überlagernd bewegen. Simon Halfmeyer kombiniert einzelne Versatzstücke und lässt sie aufeinanderprallen, umeinander kreisen, in spannungsvolle Beziehungen treten oder auf Distanz gehen. Seine Kompilationen schöpfen aus einem Pool sich wiederholender Motive, die er zu immer neuen Bildern montiert. Die wiederkehrenden Bildelemente durchziehen gleich einem roten Faden auch die früheren Wandzeichnungen, so zum Beispiel das große Wandbild Glashaus aus dem Jahr 2006, und verbinden die anderen Arbeiten der Ausstellung. Seine Vorgehensweise gleicht dem Sampling, einer Methode in der Musik, in der durch die Mischung verschiedener Musikstücke oder Motive am Mischpult eine neue Version eines Liedes entsteht.
Wie ein Rhythmus liegt der Wandzeichnung eine graphische Struktur zugrunde, die die Dynamik der Einzelmotive ermöglicht und beschleunigt. Sie bildet eine Folie, zu der sich die Motive verhalten wie die Symbole auf der virtuellen Oberfläche des Displays. Als plane Oberfläche und offener Bildraum oszilliert die Zeichnung zwischen Flächigkeit und Tiefe.
In der Steigerung der Eigenschaft der Wand als Folie löst sich der Bildträger in Transparenz auf, wie in den Lackstiftzeichnungen glasses auf Glaspaneelen, die entweder als Gruppe nebeneinander an die Wand gelehnt stehen oder in die Wandzeichnungen integriert, ihnen vorgestellt werden und diese um eine weitere, real räumliche Ebene bereichern. Dadurch eröffnet sich ein vielschichtiges Spiel mit dem Bildträger, der sich in seiner Materialität entzieht und doch präsent bleibt, ambivalent zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Das komplexe Verhältnis von Bildträger und Bild, von Signifikant und Signifikat, hinterfragt exemplarisch die konzeptuelle Arbeit von Joseph Kosuth Clear, square, glass Leaning von 1965, die aus vier quadratischen, lehnenden Glasplatten besteht, die jeweils mit einem der vier Worte des Titels beschriftet sind.
Wie bei einem Schattenriss entsteht das Bild der Tafel, vorerst ohne Titel, einer Schultafel, aus deren Bildfläche ein Palmenmotiv ausgesägt wurde, erst im Zusammenspiel mit dem Bildträger und der Wand, die das Bildmotiv, das nur negativ vorhanden ist, sichtbar macht und die Linie zum zentralen Gestaltungsprinzip erhebt. Sie zieht die Grenze zwischen Innen und Außen und konstruiert so einen Raum.

1) Glashaus, 2006, Pigmentstift auf Wand, ca. 30 x 4,85 m, Junge Kunst e.V., Wolfsburg.
2) Glasses, 2006, Lackstift hinter Glas, 145 x 22 cm, 140 x 30 cm, 170 x 43 cm, 164 x 30 cm, 140 x 30 cm, 115 x 30 cm.
3) Abb. in: Joseph Kosuth: Investigationen über Kunst und ‚Problemkreise’ seit 1965, Band 1: Protoinvestigationen & Erste Investigation (1965, 1966-1968), Luzern 1973, S. 9.
4) Tafel, vorerst ohne Titel, 2006, 

In seiner Ausstellung in Wolfsburg greift Simon Halfmeyer über die Gestaltung der Wandflächen hinausgehend in die vorgefundene Architektur des Ausstellungsraumes ein, indem er das große Fenster mit einem camouflageartigen Vorhang überzieht und dadurch den Blick verstellt, die Grenze zwischen Innen und Außen markiert und zugleich das Fenster wie einen Bildträger behandelt, in der gleichen Weise, wie er auch mit der Wand umgeht, wenn sie Träger seiner Zeichnung wird. Er initiiert ein raffiniertes Spiel mit dem Sichtbaren und Verborgenen sowie der Auseinandersetzung mit dem Raum, als Bildraum und Ausstellungsraum. Unmittelbar auf die Wand aufgebracht stehen die Zeichnungen in direktem Bezug, in unvermittelter Auseinandersetzung mit der Architektur, ihren Brüchen und Herausforderungen. Sie gestalten ihren Raum und sind gestalteter Raum. Phantastische Raumentwürfe und rätselhafte Räume konstruiert Simon Halfmeyer auch in seinen neuen, während seines Stipendiums entstandenen Zeichnungen auf Papier, die gebauten Räume zeigen und das Entwerfen, Entdecken und Konstruieren als wesenhafte Möglichkeiten des Zeichnens vorführen. „Die Zeichnung kann die Andeutung einer Welt sein“, wie der Maler und Bildhauer Antonius Höckelmann dieses Potential beschreibt. Im Versuch der Aneignung von Welt entspricht die Zeichnung der Kartographie. Daran erinnert die geometrische Grundstruktur der Wandzeichnung, die auch an ein phantastisches Straßennetz denken lässt, an die Abstraktion einer urbanen Situation. Gleichermaßen rufen diese gewachsenen Formen Assoziationen zu organischen Adersystemen oder pflanzlichen Geflechten hervor. Sowohl die Grundstruktur als auch die Motive schillern in ihrer engen Verknüpfung von Gebautem und Gewachsenem, von Natur und Konstruktion. Die teils erkennbaren oder zu erahnenden, teils kryptischen Bildelemente, die als irritierende Ausschnitte, vergrößerte Details oder positiv-negativ Umkehrungen, durch ihre unproportionale Größe oder als sonderbare Fragmente ihre Lesbarkeit erschweren, erzeugen in einem ständigen Oszillieren zwischen Abstraktion und wieder erkennen vielfache Doppel- und Mehrdeutigkeiten. Zu den zentralen motivischen Versatzstücken zählen Hochhäuser, Flutlichtmasten und architektonische Elemente wie Geländer sowie Bäume, häufig Palmen, und immer wieder Kakteen und graphisch ornamentales Blattwerk. Fast durchgängig lassen sich die Motive zwei verschiedenen Gruppen zuordnen, der natürlichen und organischen sowie der architektonischen und urbanen Formsprache. Sie lassen eine Wesensverwandtschaft zwischen organisch Gewachsenem und künstlich Konstruiertem aufscheinen und beide sogar kurzfristig in eins fallen, wenn der Kaktus auch eine Muschel sein oder als schräge Aufsicht einer runden Stadionarena gesehen werden könnte.
Die strukturelle Ähnlichkeit von Gewachsenem und Gebautem zeigt sich in der Nähe natürlicher Bauten, wie beispielsweise der Architektur von Bienenwaben, und gebauter Natur, etwa erdbebensicherer Hochhauskonstruktionen, die nach dem Prinzip eines Grashalms konzipiert sind, oder, in größeren Zusammenhängen, der gleichermaßen gebauten wie gewachsenen Struktur einer Stadt sowie der konstruierten Künstlichkeit der vom Menschen gestalteten Natur.
Mit dem artifiziellen Charakter der Natur und der Konditionierung unserer Wahrnehmung des vermeintlich Natürlichen, die dessen Künstlichkeit ausblendet, beschäftigt sich Simon Halfmeyer bereits eingehend in früheren Arbeiten, so in seinen großformatigen Kohlezeichnungen auf Papier ...

5) Ich war noch nie in Herrenhausen/Folie, 2006, Schneidplotterfolie, ca. 1,20 x 1,65 m und 5 x 4,85 m, Junge Kunst e.V., Wolfsburg.
6) Zitiert nach: Eduard Trier: Bildhauertheorien im 20. Jahrhundert, Neuausgabe, Berlin 1999, S. 295.

und es bleibt ein ernstes Grün, die im Jahr 2004 nach Photographien des Ilmparks in Weimar entstanden sind und durch ihre Komposition und Perspektive auf die künstliche Konstruiertheit des Parks verweisen. Der Zeichner zeigt durch seinen konzeptuellen Eingriff die Bedingtheit menschlicher Naturerfahrung. Mittels digitaler Bildbearbeitung löscht er aus der photographischen Vorlage einen Grünton, den er der Zeichnung als Wandfarbe wie ein farbiges Passepartout unterlegt. Durch die Wegnahme entstehen Leerstellen, die durch den Betrachter zu füllen bleiben – er konstruiert sein Bild der Natur selbst.
Hier wird die spannungsvolle Dichotomie von Natur und Künstlichkeit augenfällig, die sich exemplarisch in barocken Parkanlagen zeigt, deren Pflanzen wie Architekturen behandelt werden. Vielschichtig kommentiert Halfmeyer dieses Paradox mit seinem lebensgroßen Nachbau der gewachsenen und domestizierten Struktur einer Hecke aus Sperrholz. Die künstliche Inszenierung und inszenierte Künstlichkeit, in der die Natur zur Kulisse wird, bildet auch das Thema der raumgreifenden Installation Kigelia, die den provisorischen Charakter ihrer Inszenierung aus Spanplatte und Dachlatten unverdeckt zur Schau stellt.
Das gestaltende Eingreifen des Menschen in die Welt als spezifische Form ihrer Aneignung ist auch ein wesentliches Moment künstlerischen Schaffens. Darauf verweist die modellhafte Arbeit Der Wohnwagen, dessen Inneres ein Biotop geworden ist, in dem die Saat unter Pflanzenlampen üppig gedeiht. Als hermetisches System, in dem etwas entsteht und Form gewinnt, stellt dieses mobile Gewächshaus auch ein Bild für den Künstler dar, ähnlich dem von Sigmar Polke gebauten Kartoffelhaus, das die Keimfähigkeit der Kartoffel ironisch mit der künstlerischen Kreativität vergleicht, aus der heraus im Dunkel des Kellers Neues entsteht, wächst und wuchert.
In seiner neuen Funktion als Gewächshaus verweist Der Wohnwagen auf die Glashäuser, deren Architektur zu den zentralen Motiven der Bildwelt Simon Halfmeyers zählt. Die graphische Struktur ihrer Stahlskelettbauweise, die im 19. Jahrhundert häufig verwendet wurde, fasziniert durch ihre Auflösung in Liniengeflechte. Die Glasdächer der Gewächshäuser und Shopping Malls überspannen gleichermaßen ganz eigene, geschlossene Systeme und wuchernde Welten. Sie sind insofern auch als Metapher für das Museum oder den Ausstellungsraum zu interpretieren, wie Barbara Buchmaier in ihrem Katalogtext zur Ausstellung Glashaus ausführt. In der Reminiszenz an die elegante Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts fallen zeitlich die Tendenz der zunehmenden Historisierung und Musealisierung mit dem Exotismus zusammen. Paradigmatisch verbildlicht dies die Palme, ein immer wiederkehrendes Bild, das sich sowohl in der Tafel, vorerst ohne Titel, als auch in zahlreichen

7) ...und es bleibt ein ernstes Grün, 2004, Kohle auf Papier, Binderfarbe, Maße jeweils 2,95 x 4,47 m.
8) Ich war noch nie in Herrenhausen, 2005, Sperrholz, Blumenbindedraht, 220 x 400 x 40 cm.
9) Kigelia, 2006, Holzaufsteller, Photokopien, Keramik, Aluminiumpartikel, Maße variabel, Projektraum Cluster, Berlin.
10) Der Wohnwagen, 2001, Wohnwagen, Pflanzenlampe, Erde, Saat, Maße variabel.
11) Sigmar Polke: Kartoffelhaus, 1967, bemaltes Holzlattengerüst, Kartoffeln, 250 x 200 x 200 cm, Sammlung Block, Berlin; Abb. in: Ausst. Kat. Sigmar Polke: Die drei Lügen der Malerei, Bonn 1997, S. 148.
12) Siehe: Barbara Buchmaier: Der Ausstellungsraum als Glashaus, in: Ausst. Kat. Simon Halfmeyer: Glashaus, Junge Kunst e.V. Wolfsburg, Wolfsburg 2006.

Zeichnungen auf Papier, hinter Glas oder auf der Wand wiederholt. „Die nostalgische Palme“ ist auch ein zentrales Motiv der Arbeiten Marcel Broodthaers’, vor allem aus den letzten Jahren seines Schaffens, die er mehrfach verwendet „als Dekor, das den Exotismus der ausgehenden Kolonialzeit heraufbeschwört“ und in sich den sentimentalen „Geist des Fin-de-Siècle, das keine stilprägende Kraft mehr aufzubringen vermochte, sondern von Anleihen an die Geschichte zehrte“, verdichtet, wie die Kunsthistorikerin Dorothea Zwirner schreibt. In seiner 1974 und 1975 in mehreren Versionen realisierten Installation Un jardin d’hiver baut Broodthaers mit zahlreichen Palmen und einigen Klappstühlen einen Wintergarten, in dem der Betrachter sich in der Ausstellung von der Ausstellung erholen kann, eine Oase, die das Potential avantgardistischer Neuerung mit der Melancholie und der nostalgischen Sehnsucht nach der Tradition in sich vereint.
Mit ähnlicher Symbolkraft, doch in ihrer Bedeutung ironisch gebrochen, verwendet Sigmar Polke das Bildmotiv der Palme auf hintergründige und subversive Weise. Die Romantik der Werbeprospekte und Phototapeten der 1960er Jahre mit dem durch sie hervorgerufenen kleinbürgerlichen Fernweh und der Sehnsucht nach Exotik persifliert er in den Photographien der Palmenserie von 1966, die aus Alltagsgegenständen gebaute Palmen, wie die Zollstockpalme, die Brotpalme und die Wattepalme zeigen, sowie schließlich Polke selbst als Menschenpalme, in einer weißen Unterhose mit einem Kranz weißer Palmwedel aus Papier um den Hals, eine verkleidete Verklärung des Künstlers als Exot, in der er sich nicht recht wohl zu fühlen scheint.
Die fundamentale Sehnsucht des Menschen nach Idylle bezieht sich meist auf die Natur, die jedoch immer eine gestaltete ist. Dieser gestalterische Wille äußert sich beispielhaft in den Schrebergartensiedlungen, in denen sich jeder seine eigene Welt baut. Die Graphitzeichnungen der Serie Schrebergärten basieren auf photographischen Vorlagen, die während eines Streifzugs durch die Kleingartensiedlung entstanden sind. Dies verraten einzelne Details, deren Lichtwerte umgekehrt sind, sowie die harten Kontraste. Die Zeichnung ist zugleich Photographie und umgekehrt. Ein elementares Prinzip mit Licht zu zeichnen nutzt Simon Halfmeyer auch für seine Photogramme, die während der Arbeitszeit in Essen entstanden sind, indem er verschiedene Gegenstände auf lichtempfindlichem Papier arrangiert und belichtet hat, so dass direkt und unvermittelt, ohne Negativ eine Photographie entsteht. Mit den Photogrammen ((Titel??)) greift er in technischer und formaler Hinsicht sein charakteristisches Arbeiten mit Versatzstücken auf und stellt sich in die uralte Tradition elementarer Bildtechnik. Als ein Schattenriß ist die Zeichnung auf die Wand gewissermaßen das Ur-Bild und erinnert an das Höhlengleichnis Platons, das beschreibt, wie die Menschen in einer Höhle mit

13) Dorothea Zwirner: Marcel Broodthaers. Die Bilder die Wörter die Dinge, Köln 1997, S. 151.
14) Zwirner 1997, S. 150.
15) Abb. der Installation im Palais des Beaux-Arts, Brüssel 1974 in: Wilfried Dickhoff (Hg.): Marcel Broodthaers: Le Poids d’une œuvre d’art, Köln 1994, S. 174.
16) Sigmar Polke: ...Höhere Wesen befehlen, 1968, Mappe mit Zeichnungen, Offsetdrucken und Textblättern, Edition Galerie René Block, Berlin, Werkverzeichnis Nr. 8 in: Jürgen Becker, Claus van der Osten (Hg.): Sigmar Polke. Die Editionen 1963-2000, Ostfildern-Ruit 2000, S. 26-33.
17) Schrebergärten, 2003, Auswahl von 9 Zeichnungen, Graphit auf Papier, je 30 x 42 cm.

dem Rücken zum Ausgang gefesselt nur auf der Höhlenwand die Schatten der Dinge sehen, die draußen an einem Feuer vorbei getragen werden. Simon Halfmeyers Wandzeichnungen erscheinen wie gebannte Schatten, Spuren einer Projektion oder vorgestellten Welt, gleichermaßen gewachsen und gebaut.

19) Siehe: Platon: Politeia (Der Staat. Über das Gerechte), 7. Buch, Hamburg 1989, S. 268ff.