[Kat. Simon Halfmeyer 2017]


Ich war noch niemals auf Hawaii
Streifzüge durch Simon Halfmeyers Werk


Fritz Emslander

                                                                                                                      Und auf der Treppe dachte er,
                                                                                                             wie wenn das jetzt ein Aufbruch wär
                                                                                                                                               Udo Jürgens

 

Simon Halfmeyer zeichnet. Auf Papier und Pappe, aber auch auf Wände, Glas und Holz. Er überträgt Zeichnungen und zeichnerische Ansätze in Druckgrafiken, Skulpturen, Objekte und multimediale Installationen. So ist sein Werk im Kontext der seit den 1990er Jahren ebenso energisch wie experimentell betriebenen Entgrenzung der Zeichnung zu sehen. Es steht exemplarisch für diese Erweiterung des Zeichnungsbegriffs, für den Aufbruch, den Zeichner wagen, um sich neue Medien und neue Räume der Zeichnung zu erschließen.1 Dabei hat Simon Halfmeyer eine eigenständige Position entwickelt. Sukzessive erweitert er die mediale Bandbreite und das motivische Spektrum. Immer wieder kehrt er zur Zeichnung zurück, um von dort erneut aufzubrechen.

Wandzeichnungen

Einen wesentlichen Schritt macht Simon Halfmeyer Anfang der 2000er Jahre, indem er seine Zeichnungen auf die Wände eines Raumes transferiert. Damit sprengt er das klassische Blattformat und überführt die „Flachware“ Zeichnung in die Dreidimensionalität. Er nutzt das verführerische Potential der Simulation von Räumen, das traditionell der Wandmalerei vorbehalten war. Sein Zeichenstift erschließt dem Betrachter virtuelle Räume jenseits der Raumgrenzen. So erscheinen die Wände transparent, die Wandzeichnung vermittelt die Illusion einer Durchdringung von Innen- und Außenraum, realem und imaginärem Raum.
Meistens geht Simon Halfmeyer vom Ort, von den spezifischen architektonischen Gegebenheiten aus, wenn er seine Wand füllenden und Raum greifenden Zeichnungen anlegt. Gleichzeitig unterzieht er die vorgefundenen Orte einer Metamorphose. Überraschende Verschränkungen von Natur- und Architekturräumen verunsichern die Orientierung, verquere Perspektiven irritieren den Standpunkt des Besuchers. Wenn dieser sich bewegt und die Wahrnehmung des Raums als Prozess erfährt, erhält die in den Raum erweiterte Zeichnung mit dem Faktor Zeit eine zusätzliche, vierte Dimension.
Auf der von Halfmeyer bezeichneten Treppe eines Kölner Privathauses (Wall drawing – Köln Nr.15, 2011; siehe Seite 10/11) meint man sich durch tropisches Unterholz kämpfen zu müssen, um nach oben oder nach draußen vorzudringen. Dichtes Gestrüpp, durchzogen von den bei Halfmeyer notorischen Palmwedeln und Kakteen, überwuchern Wände und Decke. Schon der erste Schritt vor die Wohnungstüre scheint Aufbruch zu sein – ein visuelles Abenteuer, das unvermittelt aus der Enge des Treppenhauses in andere Breiten und Vegetationszonen führt.

1 Vgl. hierzu Fritz Emslander: Raumzeichnungen. Von der Entgrenzung der Zeichnung in den Raum. Ein Panorama. In: Kunstforum International, 196, 2009, S. 124–159.

Hängende Gärten

Bereits in seinen „Glashäusern“ der Jahre 2005/06 hatte Simon Halfmeyer die Gesetze der Perspektive ausgehebelt, hatte Ausstellungsräume und die dort verkehrenden Betrachter in einen merkwürdigen Schwebezustand versetzt, indem er ihnen die Bodenhaftung entzog und sie kraft seiner Zeichnung durch die lichten Räume von Gewächshäusern, Orangerien oder Shopping Malls flottieren ließ.2
Nur fragmentarisch waren dort architektonische Details der Glashäuser ausgeführt. Dieses pars pro toto reduziert der Künstler in den neueren Arbeiten nochmals und ersetzt es durch weitestgehend ungegenständliche Strukturen, die nur noch durch ihre Regelmäßigkeit das Künstliche und Konstruierte von Architektur andeuten. Nur vage lässt sich von den horizontalen Strichlagen, die Halfmeyer von Hand auf einen Holzkorpus zeichnet und die er mit luftiger gesetzten Vertikalen kreuzt, auf Fassaden- oder Rollo-Strukturen rückschließen: architektonische abstraktion 02/0315 als Diptychon in Gelb und Türkis (2015, siehe Seite 8).
Immer noch fasziniert Halfmeyer das Miteinander von Architektur und gestalteter Natur, wie es uns täglich in unterschiedlichen Spielarten urbaner Landschaften begegnet. Oft sind es allerdings nur mehr vereinzelte Pflanzen, welche die architektonischen Liniengerüste konterkarieren oder auch erst als solche erkennbar machen. In seiner 2016 begonnenen und noch fortgesetzten Radierungsserie Wall drawings (siehe Seite 6/7) blickt Halfmeyer auf einige realisierte Wandzeichnungen zurück. Im kleineren Format der Druckgrafik verdichtet, fasst er die Entwicklung nochmals zusammen und hält die verlorenen Wandzeichnungen im Bild fest.
Die Pflanzen sind in den neueren Kompositionen ihrerseits als Silhouetten oder monochrom schwarze Farbflächen auf wiedererkennbare, archetypische Formen reduziert. Wie Icons setzt Halfmeyer sie im Gefüge seiner Bilder ein, wo sie oft mehr der ins Abstrakte tendierenden Komposition als der Schilderung gegenständlicher Wirklichkeit dienen. Das heißt: Wenn es kompositorisch, als Bild, besser funktioniert, dann verkehrt Halfmeyer Oben und Unten und die vorgestellten Gärten wachsen von der Decke wie in Wall drawing – Hannover Nr. 26/ 2017. Die langen Blätter werden von einer Zeichnung parallel gezogener Linien strukturiert, die ebenso wenig mit der Natur der Pflanze zu tun hat wie die horizontal unter ihnen verlaufenden Farbbahnen – exakt angelegt und skalenartig abgestuft – mit einer Landschaft oder einem Gebäude.
Vielleicht wäre es auch einfach zu naheliegend, eine Gruppe exotischer Pflanzen schlicht aus dem Boden sprießen zu lassen und mit ihnen den Sockelbereich moderner Nutzbauten zu umspielen. Halfmeyer dreht in einer 2016 für die Ausstellung im Kunstverein Ahlen entstandenen Wandzeichnung und auch bei Wall drawing – Hannover Nr. 25/ 2017 ebenfalls den Spieß um: In der letzteren deuten zwei Linienbündel in dynamischer Perspektive zugespitzt eine Glasarchitektur an, die optisch nach oben wegfliegen würde, wenn sie nicht Halt und Gegengewicht im symmetrischen Arrangement eines von oben herabhängenden Gartens fände. Halfmeyers abstrahierte, dabei spannungsvolle und hoch ästhetische Stadtlandschaften reflektieren das mitunter surreale Eigenleben, das die Natur im Zuge ihrer Domestizierung im urbanen Kontext entfaltet.

2 Vgl. hierzu Simon Halfmeyer. Gewachsenes und Gebautes. Kat. Kunsthaus Essen 2007.

Fundus

Auch wenn in diesen strenger aufgebauten Kompositionen die Motive bis an die Grenzen des Abstrakten geführt sind, behält Halfmeyer doch seinen konzeptionellen Ansatz bei: Alle von ihm verwendeten Teilformen sind Formen oder Strukturen, die er aus Natur und Architektur hergeleitet hat, teils auch aus Bildern in Zeitungen oder anderen Publikationen. Der Künstler ist ständig auf Motivsuche. Mit wachen Augen unterwegs, sammelt er visuelle Eindrücke, er notiert sie mit dem Zeichenstift und hält Details fest, von denen er ahnt, dass sie einmal in seine Werke einfließen könnten. Nach und nach ist diese Sammlung zu einem veritablen Archiv angewachsen – einem Fundus, auf den Halfmeyer wie auf ein Wörterbuch zurückgreift und aus dem heraus er seine Bildsprache entwickelt.
In diesem Bilderpool schlummern seine Funde teils mehrere Jahre zwischen dicken Aktendeckeln. Irgendwann aber ist es so weit, Halfmeyer blättert und erinnert sich, er überträgt die Form in den Kontext einer gerade entstehenden Arbeit. Der Künstler kopiert dann einzelne Formen und eignet sie sich zeichnend nochmals an, er vervielfältigt sie digital und montiert oder projiziert sie übereinander. In diesem Prozess der Isolierung und Rekontextualisierung einzelner Motive vereinfacht und verdichtet Halfmeyer die Formen – programmatisch lautete daher der Titel seiner Ahlener Ausstellung Simplify & Condense. Seine Soloschau im Leverkusener Museum Morsbroich nannte er Loop & Relate (2010), was wiederum sein Arbeitsprinzip der Wiederholung von Teilen und deren Abwandlung in Beziehungsverhältnissen auf eine griffige Formel brachte3: Einzelne Versatzstücke kehren wieder und werden nach dem Prinzip der Collage in immer neuen Konstellationen zusammengeführt.
Die Besucher von Simon Halfmeyers Ausstellungen müssen sich also ebenso wenig wie die Leser seiner Kataloge über Déjà-vu-Erlebnisse wundern: über das abstrakte Raster etwa, das sie als Teil einer anderswo im Ganzen gesehenen Hochhausfassade wieder erkennen; über eine bestimmte Palme oder Agave, die in verschiedenen Werken auftaucht. Die zusammengesetzten Orte, die aus der Kombination der Teile entstehen, nähern sich mal dem Sehnsuchtsbild von Hawaii an, mal ironisch gebrochen den menschengemachten „Paradiesen“, der künstlichen Natur im städtischen Raum.
Die Orte in Halfmeyers Bildern sind nie geografisch lokalisierbar, sondern immer fiktiv. Nie nimmt uns der Künstler an die Hand und führt uns bis auf die Südseeinsel. Wir brechen mit ihm auf, bleiben aber schon an der nächsten Ecke hängen, wo eine Palme im Mikroklima eines Vorgartens gedeiht, eine Versicherung ihr Foyer oder ein Hotel seine Auffahrt mit exotischen Pflanzen schmückt, um die trostlose Funktionalität der umgebenden Architektur wegzublenden. Auf diesen Exkursionen in die Nachbarschaften der Orte, an denen er wohnt und arbeitet, findet der Künstler Nachschub für seinen Fundus. Die Stadt als Collage, in der aufeinandertrifft, was ursprünglich nicht zusammengehörte, ist für Simon Halfmeyer wesentlich interessanter als das ungebrochene Bild der unberührten Palmeninsel. Das Surrogat des Paradieses ist die stärkere und abwechslungsreichere Geschichte, die seinen utopischen und zugleich sehr realitätshaltigen Kompositlandschaften zugrunde liegt.

3 Der Ausstellungstitel nahm den Werktitel der typografischen Skulptur loop/relate (2010) auf, in der Halfmeyer sein Arbeitsprinzip skulptural ausbuchstabierte und mit der Raum greifenden Anordnung der drei Schrift-Komponenten „loop“, „/“ und „relate“ thematisierte; vgl. Fritz Emslander (Hg.): Simon Halfmeyer. loop & relate. Kat. Museum Morsbroich, Leverkusen 2010.

Modelle und Module

Wie Simon Halfmeyers neuere Wandarbeiten nicht mehr im engeren Sinne ortsspezifisch, sondern auch an anderen Orten wiederherstellbar sind, so lassen sich die seit 2015 entstehenden Modelle (siehe Seite 38/39 und 43/44) ebenfalls als Ausgangspunkte verstehen, um die hier angelegten Wandzeichnungen an unterschiedlichen, noch festzulegenden Orten zu realisieren. In der Modell-Reihe finden sich architektonische Motive, Netz- und Rasterstrukturen, gepaart mit singulär stehenden oder zu flächendeckenden, teils in sternförmige Formationen aufgelösten Pflanzen. Maßstabsverkleinert erscheinen sie in Bleistift und Acryl jeweils auf einer dicken Holzplatte, die in ihrer Tiefe und Körperlichkeit die Wand simuliert.
Ein Jahr zuvor hatte Halfmeyer bereits mehrere quadratische Holztafeln rasterartig zu einem größeren Tableau, eine Art Wand vor der Wand, angeordnet (ohne Titel, 2014; siehe Seite 28). Die Komposition entwickelt sich dort über die Abstände zwischen den Tafeln hinweg. Dadurch werden auch die Zwischenräume mit einbezogen. Das Spiel mit verschiedenen Ebenen, das im Bild durch den schichtweisen Auftrag der Ölfarbe (mithilfe von Schablonen nach dem Prinzip der verlorenen Form) angelegt ist, setzt sich somit im Raum außerhalb des Bildes fort.
Für die Konzeption mobiler Wandarbeiten im großen Maßstab verwendet Halfmeyer jüngst auch wieder Papier als Träger. Im Fall von wallpaper Hamburg (2016, siehe Seite 54/55) schließen sich fünf hochformatige Tafeln über die Rahmengrenzen hinweg zu einem großen Landschaftspanorama aus Palmwedeln und Farnen zusammen. In der Abwicklung der Motive vermeidet Halfmeyer den stupiden Rapport eines Tapetenmusters, wenngleich das wache Auge einzelne Formen wiederholt findet. Es ist ein zunächst in Bruchstücken gezeichnetes, dann Schritt für Schritt in Siebdruck auf Tapetenbahnen aufgestempeltes Dickicht, dem man hier gegenüber tritt. Zu beiden Seiten ließe sich dieser Dschungel um eine beliebige Anzahl weiterer Paneele erweitern, so dass sich der Betrachter der Illusion hingeben könnte, auf allen Seiten von exotischer Natur umgeben zu sein. Der Außenraum der Wildnis würde in die Behaglichkeit des Zimmers hineinreichen – wäre da (neben dem Schwarzweiß des Siebdrucks) nicht einer jener auffälligen Brüche, die Halfmeyer so gerne in seine Werke einbaut: Eine blaue Form, die schon in einem der Modelle (Nr. 4, 2015; siehe Seite 43) nicht richtig als Wolke durchgehen wollte, schiebt sich wie ein Zitat aus Henri Matisses Scherenschnitten in den Vordergrund und bindet den Palmengarten in die Fläche der Tapete zurück.
In seinen Wandarbeiten hat Simon Halfmeyer immer wieder Wege gesucht, wie er mit dem Zeichenstift Wände durchlässig machen und den Blick nach draußen führen kann. Oder er hat umgekehrt die Wände mit strukturiertem Pflanzenwuchs überzogen, um den Ausblick zu versperren und den Innerraum abzuschirmen. So oder so machten die Zeichnungen dort die Wand, die Grenze von Innen und Außen, zum Bildträger. Dagegen versetzte Halfmeyer in einer skulpturalen Installation von 2005 diese Grenze in Form einer Hecke mitten in den Ausstellungsraum. Ausgangspunkt war eine Studienskizze einer Blattstruktur, die der Künstler dann als Lochmuster auf die sperrhölzernen Seiten einer Heckenskulptur übertrug. Es entstand eine dreidimensionale Zeichnung. Der kleinteilig perforierte Korpus der Hecke ist 40 cm tief, so dass Licht und Schatten ihn umspielen können, aber kaum Durchblicke möglich sind. Dicht sollte die Hecke sein, wie in den großen Gartenlabyrinthen. Dass Halfmeyer diesen Prototypen an einer Seite um die Ecke führt, zeigt bereits an, dass es sich um ein Modul handelt, welches vervielfacht und mit weiteren Teilen zu einem größeren Ganzen, zum Labyrinth, zusammengesetzt werden kann.
Auch wenn dem Irrgarten als Ort des ungewissen Ausgangs heute durch Filme wie Stanley Kubricks Shining das Flair der Bedrohung anhaftet, wenn er dort zum „Sinnbild der Angst, des Schreckens, der Verfolgung“4 wurde, macht Simon Halfmeyer seine Heckeninstallation nicht zum Schauplatz des Horrors. Niemand wird hier in die ausweglose Irre geführt. Aber über die Hecke hinweg sollte man keinesfalls schauen können. Die Proportionen sollten, das war Halfmeyer klar, wie im klassischen Barockgarten auf den menschlichen Körper abgestimmt sein. Und so war es bei der Recherche eher ein Zufall, dass der Künstler auf die Parkanlage bei Hannover stieß.
Der Große Garten von Herrenhausen wurde in einem Bildband als Musterbeispiel einer regelmäßigen Barockanlage vorgestellt. Sogenannte Boskette, Waldbereiche, werden dort durch exakt geschnittene Hecken eingefasst und begrenzt, um sich in die geometrische Ordnung der Gesamtanlage einzufügen. In den Bosketten, so die Gartenliteratur, sparte man kleine Kabinette oder Salons aus, in denen man sich auf Bänken niederlassen und sich wie in einem Wohnzimmer unter freiem Himmel geborgen fühlen kann, während sich hinter den übermannshohen Wänden der Hecke dunkles Dickicht ausbreitet. Hochinteressant, doch der Künstler selbst beteuert im Titel seiner Arbeit: „Ich war noch nie in Herrenhausen“ (siehe Seite 36/37). Herrenhausen, als Prinzip verstanden, ist allerdings an vielen Orten. Wie die Vorstellung von der Palmeninsel (Hawaii) ist es im Œuvre von Simon Halfmeyer zum Versatzstück geworden, zum Anstoß für einen Aufbruch, der an ganz unterschiedliche Orte führen kann – Orte, an denen wir noch niemals waren.

4 1980 nach Stephen Kings gleichnamigem Roman. Vgl. dazu Mirjam Kappes: Das Labyrinthmotiv im Film.
Raum, Erfahrung und Metaphorik in THE SHINING und PAN’S LABYRINTH. In: Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung, Nr. 5/2013, S. 86–102; zugreifbar unter: http://www.rabbiteye.de/2013/5/kappes_labyrinthmotiv.pdf.