von Friederike Schuler

 

Simon Halfmeyer
Laudatio – Joseph und Anna Fassbender-Preis 2018
Donnerstag, den 15.11.2018 um 19:00 Uhr


Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
vielen Dank für die freundliche Einführung,
sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Simon Halfmeyer,

ich freue mich sehr, heute Abend die Laudatio anlässlich
der Verleihung des Joseph und Anna Fassbender-
Preises halten zu dürfen. Mit diesem Preis zeichnet die
Stadt Brühl „Grafiker*innen und Handzeichner*innen“
aus.
2018 geht der Preis an Simon Halfmeyer dessen Werk
zwar durchaus graphisch und handzeichnerisch definiert
werden kann, aber wesentlich über die engere Definition
hinaus geht. Der Künstler beschränkt sich nicht auf den
Bildträger Papier oder Pappe, sondern führt seine
zeichnerischen Ansätze als Druckgraphik, auf kleinen
Holzobjekten oder im dreidimensionalen Raum als
Wandzeichnung, Skulptur oder skulpturale Installation
aus. Sein Werk ist damit in der Tradition der
Emanzipation der Zeichnung seit den 1960er Jahren zu
sehen. In den 1990er Jahren kam es dann zur
radikaleren Entgrenzung und Erweiterung des
Zeichnungsbegriffs, die auch in Halfmeyers Werk
deutlich sicht- und spürbar ist. Die gattungsbezogenen,
konzeptionellen oder materiellen Schranken, die bisher
galten, sind gefallen und ermöglichen so ein vielfältiges
künstlerisches Werk, das zwar in der Zeichnung gründet,
diese aber in Materialwahl und Dimension entgrenzt.
In der Woche nach dem länderübergreifenden
Wochenende der Graphik, mit dem am vergangenen
Wochenende zahlreiche Institutionen in Deutschland,
Österreich und der Schweiz zum 10. Mal besonders
graphische Themen betont haben – stehen wir heute
Abend in einer Ausstellung Simon Halfmeyers, mit der
er uns einen Einblick in dieses ent-grenzte,
zeichnerische Werk gibt.
So unterschiedlich die hier präsentierten Arbeiten in
Größe, Material und Form sind, so lassen sich doch
immer wieder vegetabile oder architektonische
Versatzstücke finden. Aus diesen werden die Werke in
unterschiedlichen Zusammenstellungen oder
Abstraktionsgraden stets neu kombiniert. Das Miteinander
von Architektur und Natur ist zentraler Angelpunkt,
der mitunter deutlich ausformuliert wurde oder
aber als Ausgangspunkt für weitgehend abstrahierte
Kompositionen dient.
Dieses Spektrum zeigt sich heute in dieser Ausstellung –
die ich zum Leitfaden meiner Rede machen möchte.
Hier an der Eingangswand sehen Sie beispielsweise
kleinformatige Radierungen, die sich auf nicht mehr
existierende Wand- bzw. Raumzeichnungen beziehen
sowie die Zertifikate, die Halfmeyer für seine
ortsunabhängigen Arbeiten entwickelt hat. Über eine
lineare Struktur, die mal an eine abstrahierte
Hausfassade eines modernen Bürogebäudes erinnert,
mal an eine abstrakte Parallelstruktur aus horizontalen
Linien (in der man vielleicht eine heruntergelassene
Jalousie vermuten könnte) oder auch an eine freie
graphische, vollkommen ungegenständliche
Hintergrundfolie aus diagonalen Linien, setzt der
Künstler unterschiedliche Pflanzenformen.
Auf der Arbeit, die manche von Ihnen in Form der
Einladungskarte in Händen halten, schieben sich von
oben die fast spiegelsymmetrisch angelegten Umrisse
einer Agavenpflanze ins Bild. Als Wandzeichnung war
diese Ausführung für die Einzelausstellung des Künstlers
in der Hannoveraner Galerie Robert Drees entstanden –
daher rührt auch der Titel Walldrawing Hannover Nr.
25/2017. Die umgekehrte Ausrichtung, die gleichsam
„falsche“ Wuchsrichtung der Pflanzen von oben in den
Bildraum hinein, lässt sich als Mittel der Abstraktion und
Brechung üblicher Seh- und Denkgewohnheiten lesen.
Bislang entstanden fünf solcher Zertifikate, mit denen der
Künstler eine selbständige graphische Arbeit geschaffen
hat und es den Sammlern ermöglicht, die
Wandzeichnung als Allovermalerei vom Fußboden bis
zur Decke in einem festgelegten Seitenverhältnis (1 :
1,08) ausführen oder wiederherstellen zu lassen.
Damit führt er den Schritt, den er Anfang der 2000er
Jahre von der Zeichnung auf Papier in den Raum hinein
gegangen war, wieder zurück in die zweidimensionale
Bildfläche und erweitert sein Werk zugleich in
konzeptioneller Hinsicht. Dieses Verfahren lässt an die
Wall Drawings von Sol LeWitt oder das Blaue Dreieck
von Blinky Palermo denken. Sol Lewitt, der den Begriff
der Konzeptkunst in den 1960er Jahren maßgeblich
etablierte, definierte das Blatt mit Entwurfszeichnung,
Maßangaben und Ausführungsbestimmungen als das
eigentliche Original seiner Wall Drawings, die hiernach
auszuführen waren.
Blinky Palermos Werk erschien 1969 als Edition und
funktionierte fast analog hierzu, sodaß sich die Käufer
mithilfe der mitgelieferten Schablone und Farbe ihre
Wandmalerei selbst über einem Türstock anbringen
konnten. Die Verwendungsanleitung, Impressum der
Galerie und Nummerierung dienten zur Authorisierung
und machten jedes Werk zum Original.
Diese neueren Arbeiten von Simon Halfmeyer vereinen
also den explizit ortsspezifischen Ansatz der
Wandzeichnungen mit diesem konzeptionellen Ansatz,
der die Wiederaufführbarkeit gewährleistet. Sie bilden
damit einen zweiten Entwicklungsstrang im Feld von
Halfmeyer‘s Wandzeichnungen.
Seine früheren Wandmalereien waren dagegen immer
aus den jeweiligen Raumbedingungen entwickelt und
ließen sich oftmals nicht von einer klaren, gerade
Umrißlinie begrenzen. Mitunter breiteten sich die
architektonischen Strukturen, Wurzelwerk, Kakteen oder
Palmwedel über mehrere Wände oder Raumelemente,
wie Pfeiler, Wanddurchbrüche oder auch auf Fußboden
und Fensterscheiben aus; in Treppenhäusern auch über
mehrere Stockwerke hinweg, und umschlossen die
Betrachter von allen Seiten.
Wie Herr Bürgermeister Freytag bereits erwähnte sind
auch für das Marienhospital Entwürfe für eine
Wandmalerei entstanden, die Sie vielleicht schon bald
hier vor Ort in Augenschein nehmen können.
Gemeinsam ist all diesen Arbeiten – und auch den freien
Arbeiten wie den Modellen, Wandfolgern, Siebdrucken,
Malereien oder auch Skulpturen, von denen Sie einige
Beispiele hier sehen – dass sie sich aus ein und dem
selben Motivfundus speisen. Simon Halfmeyer hat sich
im Laufe seiner künstlerischen Tätigkeit ein
umfassendes Bildarchiv angelegt, aus dem er seine
Arbeiten entwickelt.
Einen Schwerpunkt dieser Sammlung bilden
architektonische Versatzstücke wie Fassadenstrukturen,
Einzelformen modernistischer Wohnhäuser, Elemente
aus der Hochhausarchitektur, oder auch serielle
Strukturen, die sich in Baugerüsten oder
Konstruktionsmaterialien wie Netzen finden lassen.
Den zweiten Schwerpunkt bilden die organischen,
vegetabilen Formen. Dazu gehören Kakteen, Palmen,
Farne u. ä., die ihn aufgrund ihrer graphischen
Eigenschaften besonders interessierten – aber auch
Elemente wie kleinteiliges Blätterdickicht oder
vielverzweigtes Wurzelwerk, aus denen sich großflächige
Strukturen bilden lassen. Halfmeyer schöpft aus diesem
reichen Fundus und komponiert immer neue Bildwelten.
Das Vokabular, das lange Zeit klar erkenn- und
benennbar war, dient dem Künstler mehr und mehr als
Ausgangspunkt, aus dem heraus er neue freie Formen
entwickelt.
Dies lässt sich in den drei großformatigen Malereien
(Wandmodell 45/2018-47/2018) gut nachvollziehen, die
Sie hier auf der Rückwand sehen. Ein formatfüllendes
irreguläres Muster aus blattähnlichen Formen in jeweils
schwarz, weiß und zwei weiteren Farben mag zwar an
eine Nahaufnahme einer dichtgewachsenen Hecke
erinnern, jedoch bleiben alle drei Werke letztlich
ungegenständlich und bedeutungsoffen. Ausgangspunkt
war ein einzelnes Blattbündel, das dutzendfach
wiederholt und miteinander verschränkt wurde.
Die mehrteilige Arbeit wallpaper Hamburg, 2016, die Sie
hier nebenan sehen, ist eine Siebdruckarbeit auf Papier,
die Simon Halfmeyer für diese Ausstellung aus sechs
einzelnen Tableaus von je 2,60 x 60 cm
zusammengesetzt hat. Als mobile Wandarbeit konzipiert,
lässt sie sich fast beliebig weiterdenken – ein ganzer
Raum könnte so ausgestattet die Betrachterinnen und
Betrachter mit einem Panorama aus Palmwedeln und
Farnen umschließen. Der Titel wallpaper und auch ein
erster, nur flüchtiger Blick lassen an Tapetenbahnen
denken; bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass
hier kein wiederholbarer Rapport zu finden ist, auch
wenn einzelne Formen immer wieder auftauchen. Die
Ausgangszeichnung wurde vielmehr mithilfe eines
Siebdruckersiebs, wie mit einem Stempel, mehrfach
über- und nebeneinander gesetzt und füllt so jedes
einzelne Blatt auf stets individuelle Weise. Der
Siebdruck, der eigentlich eine Wiederholbarkeit der
Arbeit gewährleistet, wird zweckentfremdet, um ein
dschungelartiges Dickicht zu schaffen.
Die hellblaue amorphe Form, die an Scherenschnitte von
Henri Matisse erinnert, sitzt frei schwebend auf dem
dichten Gewächs und erinnert uns daran, dass es sich
doch „nur“ um eine flache Papierarbeit handelt.
Beide Werke bzw. Werkgruppen machen erneut das
Arbeitsprinzip von Simon Halfmeyer deutlich, das er in
den Titeln vergangener Einzelausstellungen im
Kunstverein Ahnlen (2016), der Galerie Arte Giani in
Frankfurt (2015) sowie im Museum Morsbroich (2010)
prägnant formuliert hatte. Die Titel lauteten: Simplyfy &
Condense, Rekorder und loop & relate. Formen und
Motive werden aus der urbanen Umwelt und
domestizierten Natur wie mit einem Aufnahmegerät
aufgezeichnet, vereinfacht, verdichtet, wiederholt und in
neue Bezüge und Kontexte gebracht.
Auf der schmalen Wand finden Sie zwei weitere
Arbeiten, die diesen Prozess durchlaufen haben. Das
Dyptichon grey and pink structure, 2015 und eine
Wandplastik mit dem Titel Wandfolger, 2018.
Bei den sog. Wandfolgern, die es in verschiedenen
Proportionen und Längen gibt, handelt es sich um jeweils
eigenständige Arbeiten, die sich aber einem Modul
ähnlich untereinander kombinieren lassen. Hier wurde in
ein Stahlblech ein Blattmuster als Lochstruktur
geschnitten. Sie stehen in unmittelbarer Folge einer
raumgreifenden Skulptur, die als eine Art
dreidimensionale Raumzeichnung beschrieben werden
kann. In Bezug auf die barocke Gartenanlage in
Herrenhausen bei Hannover entwickelte Halfmeyer diese
Skulptur mit dem Titel Ich war noch nie in Herrenhausen,
2005, als eine abstrahierte Hecke aus perforiertem
Sperrholz. Das hier verwendete Lochmuster, das zwar
Licht- und Schattenspiel ermöglicht, aber keine direkten
Durchblicke, taucht nun in den Wandfolgern wieder auf.
Ein solch bildhauerischen Ansatz findet sich in Simon
Halfmeyers Arbeiten immer wieder in unterschiedlicher
Ausprägung. Ich habe es bereits für die raumgreifenden
Wandzeichnungen beschrieben. Aber auch in den sog.
„Tapetenbahnen“, die sich beliebig zu einer wand- oder
gar raumfüllende Arbeit erweitern ließen, ist dies
nachvollziehbar. Selbst die bildimmanenten Struktur hat
etwas von einem aktiven Aufbauen und
Übereinanderschichten.
In dem zweiteiligen Bild grey and pink structure, 2015
arbeitete der Künstler mit einem dem Siebdruck
ähnlichen Verfahren. Auf den monochrom eingefärbten
Holzkorpus wurde eine kleinteilige Schablone
aufgebracht, die nach dem flächendeckenden Auftrag
der grauen Farbe wieder abgenommen wurde. Anders
als im Siebdruck geht diese Form bzw. Schablone nach
der Benutzung jedoch verloren. Auf der Bildoberfläche
entsteht eine reliefartige erhabene Struktur. Ein
abstraktes Muster, das an einen Ölfilm auf dem Wasser
oder eine Wurzelstruktur erinnert.
In dieser Arbeit, aber auch im gesamten Werk, zeigen
sich vielleicht besonders deutlich die künstlerischen
Wurzeln Simon Halfmeyers. Das erste Studienjahr in Kiel
absolvierte er in einer Klasse für experimentelle Malerei,
die weitere Studienzeit dann an der Hochschule für
Bildende Künste in Braunschweig in einer Klasse für
Bildhauerei. In dieser Zeit waren Konzeptkünstler wie
Bruce Naumann, Sol LeWitt oder Gordon Matta-Clark
wichtige Referenzen für Simon Halfmeyer. Ihre Spuren
lassen sich in der künstlerischen Haltung, dem
konzeptionellen Ansatz und der stets neu gestellten
Frage, was Kunst heute sein kann, finden.
Die Verschränkung von Bildhauerei mit Malerei und
Zeichnung war auch für die Jury ein ausschlaggebendes
Kriterium, dem ich mich nur anschließen kann. Ich zitiere
aus der Jurybegründung: „Es wird sehr deutlich, wie
stark das Denken des zeichnenden Künstlers auf eine
Umsetzung in den Raum hinein, auf die Wand und damit
auf einen größeren Zusammenhang abzielt.“
Auch seine zweidimensionalen Zeichnungen sind immer
raumgreifend und haben oft einen ortsspezifischen
Charakter; die Raumzeichnungen breiten sich mitunter
über verschiedenste Elemente eines Raumes aus und
scheinen die Architektur mitunter fast aufzulösen. In den
malerischen Werken zeigt sich der bildhauerische
Ansatz, in dem die Farbe entweder plastisch aufgetragen
oder auch weggenommen wird. Der zeichnerische
Aspekt bleibt bei aller Heterogenität der Werke und
Arbeitsweisen das zentrale und verbindende Element.
Simon Halfmeyer gelingt so eine scheinbar mühelose
Verschränkung der Gattungen und eine konsequente
Entgrenzung und Erweiterung seines
Zeichnungsbegriffs.


Lieber Simon, ich möchte Dir herzlich gratulieren zum
Joseph und Anna Fassbender-Preis 2018!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Friederike Schuler, November 2018