Simon Halfmeyer. Wandzeichnungen

von Peter Lodermeyer

 

 

Bekanntlich sieht man nur, was man weiß – und da Simon Halfmeyer bei seinen Wandzeichnungen mit dem, was er zu sehen gibt, sparsam und konzentriert umgeht, ist es ratsam, sich vorab einige Grundlagen seiner Arbeitsweise in Erinnerung zu rufen. Drei Dinge scheinen mir dabei wichtig zu sein. Das erste ist die Tatsache, dass Halfmeyer seine Wandarbeiten von Hand zeichnet bzw. malt, mit Acryl- oder Pigmentstiften, manchmal mit Wandfarbe, natürlich auch unter Zuhilfenahme von Linealen und ähnlichem Arbeitsgerät. Es bewahrt vor Missverständnissen, wenn man weiß, dass die Linien nicht geklebt, gesprüht, gedruckt, von beauftragten Handwerken mit Schablonen aufgetragen wurden oder Ähnliches. Wichtiger noch erscheint es mir zu wissen, wie Halfmeyer grundsätzlich arbeitet, dass er über viele Jahre ein Archiv von Motiven und Ideen angelegt hat, dass er Versatzstücke aus diesem Bestand auswählt, kombiniert, umarbeitet, variiert, synthetisiert, und dass jede neue Wandzeichnung dann wieder Ausgangspunkt neuer Arbeitsschritte werden kann. So stehen seine Arbeiten über die Zeit miteinander in Verbindung und knüpfen ein kompliziertes Netz von Beziehungen. Halfmeyer nennt seine Arbeitsweise „spektral“. Das Wort lässt mich an die Spektraleffekte eines Lasers denken, an die zahlreichen Strahlen, die optisch in einem Punkt zusammentreffen. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass er immer wieder Palmblätter und andere sich auffächernde Pflanzenteile zeichnet, die strukturell genau diese Form haben. Drittens ist es wichtig zu wissen, dass Halfmeyer ortsspezifisch arbeitet. Seine Wandzeichnungen entwirft er am Computer, was nicht weiter verwunderlich ist, so arbeitet man heutzutage. Doch die Ausführung ist nicht einfach eine Übertragung des digitalen Entwurfs auf die jeweiligen Wände. Vor Ort, im Prozess der Realisierung werden stets noch Entscheidungen getroffen, Veränderungen vorgenommen, örtliche Gegebenheiten eingearbeitet. Die Wandzeichnungen kommunizieren, interagieren mit ihrer Umgebung.

Wenn es nun ans Sehen geht, wenn man also die Arbeiten real vor sich hat, macht man schnell die Erfahrung, dass man sie nie allein visuell aufnimmt. Eine Wand ist kein Zeichenblatt, das seinen eigenen, von der Umgebung unabhängigen Bildraum mitbringt, sie ist Teil realer Räume, tatsächlicher Architektur. Daher sieht man Halfmeyers Arbeiten nicht nur mit dem Blick, man erfährt sie mit dem Körper, im Raum, in der Bewegung, in der Vergleichung der Sehdaten aus wechselnden Blickachsen. Diese Arbeiten sind, mit einem Begriff des Kunsthistorikers Oskar Bätschmann gesagt, Erfahrungskunstwerke. Wenn man zum Beispiel die Wandarbeit in Hannover, die hier groß abgebildet ist, von links her betrachtet, wird man die perspektivische Verkürzung des Büroraums einigermaßen in Einklang mit der Perspektive auf die in der Linienzeichnung wiedergegebene Architektur sehen. Wenn man aber von rechts her schaut, laufen reale und dargestellte Perspektive gegeneinander, was einen ganz anderen, widersprüchlichen Seheindruck erzeugt. Halfmeyers Zeichnung stellt unvermeidlich eine Beziehung zu Elementen des Umraums her, zu den Steckdosen in der Wand, die die Linien unterbrechen, zu der blockhaft in die Wand eindringenden Fensterbank, zu den quaderförmigen Deckenleuchten – und nicht zuletzt zur realen Architektur draußen, die man durch die Bürofenster sehen kann. Kommunizieren heißt alles andere als verschmelzen. Die ganz auf die Konturlinien, ohne jede Binnenstruktur reduzierte Zeichnung verändert die Art, auf die Realwelt zu schauen. Man fokussiert sich unwillkürlich auf die Umrisse der Dinge im Raum, besonders bei den stereometrischen Körpern der Möblierung.

Aber Halfmeyer kann diesen Prozess der Wahrnehmungsaskese, wie ich es einmal nennen möchte, auch umkehren und seine Wandzeichnungen mit Modellen anreichern, die mit ihrer Farbigkeit an Malerei erinnern, wegen der raumgreifenden Materialität aber auch Objektcharakter haben. Mit diesen Modellen schafft er gleichsam eine zweite Raumebene, setzt Bildfenster – oder sollte man sagen: Bildbalkons? – in sie ein. So generiert er einen ästhetischen Überschuss, eine Komplexitätssteigerung im Erfassen der räumliche Verhältnisse – und dann kann es geschehen, dass man plötzlich mehr sieht, als man weiß.